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Stigmatisierung hält bis heute an
Es gibt tatsächlich auch gute Nachrichten im Zusammenhang mit dem Coronavirus: „In diesem Jahr mussten wir zum ersten Mal keinen weiteren Stein an der Gedenkstelle auf dem Bergfriedhof ablegen“, erzählt Juliane Schurig. Die Sozialpädagogin ist stellvertretende Leiterin der AIDS-Hilfe Heidelberg. Rund 140 Klienten beiden Geschlechts betreut der Verein – im Pandemiejahr mit besonderen Herausforderungen und der Ungewissheit, wie der Verein im kommenden Jahr finanziell aufgestellt sein wird. Große Spendenaktionen wie etwa die jährliche Gala im Städtischen Theater oder der „Pink Monday“ auf dem Weihnachtsmarkt fielen in diesem Jahr weg – und wie die öffentlichen Zuschüsse sich entwickeln, vermag noch niemand abzuschätzen. „Mehr als die Hälfte der Einnahmen sind Eigenmittel; davon sind ein großer Anteil Spendengelder.“
Abstandsregeln helfen Kranken
Seit Mai 2006 – in dem Jahr wurde die AIDS-Hilfe Heidelberg zwanzig Jahre alt – gibt es in einer ruhigen und schattigen Ecke des Heidelberger Bergfriedhofs den schwarzen Obelisken mit der roten Solidaritätsschleife. Er erinnert an Verstorbene mit HIV beziehungsweise AIDS – und drumherum liegen Kieselsteine, auf denen meist ein Vorname zu lesen ist. Dass in diesem Jahr noch kein neuer dazu kam, sei vermutlich auf die Hygiene- und Abstandsregeln während der Pandemie zurückzuführen: Immunsensible Schwerkranke werden weniger durch Viren oder Bakterien gefährdet, weil sie mehr zuhause bleiben und das Tragen eines Mundschutzes im öffentlichen Raum zumindest in geschlossenen Gebäuden zur Normalität geworden ist, ist Schurig überzeugt.
„Die Panik war ähnlich“, zieht die Expertin das Auftauchen von HIV (Humane Immundefizienz-Virus) in den 1980er-Jahren einen Vergleich zur aktuellen Pandemie. In beiden Fällen habe es zunächst nur wenige Informationen über die neue Bedrohung gegeben. Allerdings: Bei HIV und der von dem Erreger ausgelösten Immunschwäche AIDS (Acquired Immune Deficiency Syndrome) sei bald eine Stigmatisierung und das „Abschieben in eine Nische“ erfolgt, weil das Virus zunächst vor allem Menschen bedrohte, die im Sexgewerbe arbeiteten, homosexuelle Kontakte pflegten oder drogensüchtig waren. „Ansatzweise“ habe man aber auch in der Corona-Pandemie kurz Stigmatisierung erleben können – als im Frühjahr Menschen vermeintlich asiatischer Herkunft Anfeindungen erlebten. „Viele Ängste sind gleich“, findet Schurig.
Rund 500 HIV-Infizierte aus einem großen Einzugsgebiet werden regelmäßig in der Immunologischen Ambulanz der Heidelberger Universitätsklinik betreut. Wie viele Betroffene in der Stadt oder im Kreis leben, sei schwer zu schätzen. Zwar gebe es eine anonyme Meldepflicht nach einem positiven Testergebnis. „Aber viele lassen den Test bewusst nicht am eigenen Wohnort machen, auch aus Angst, erkannt zu werden.“ Auch hängt die Anzahl der Ergebnisse eng mit der Gesamtzahl der durchgeführten Tests zusammen, die wiederum mit der personellen Ausstattung der jeweiligen Teststellen, zum Beispiel der Gesundheitsämter, zusammenhängt. So kann es sein, dass die Zahlen in kleineren Städten höher liegen, wenn dort mehr Kapazitäten für HIV-Tests vorhanden sind.
In der aktuellen Corona-Pandemie kommen bei einigen HIV-Positiven auch eigentlich verarbeitete Gefühle wieder hoch. „Die Diagnose hat immer einen traumatischen Stellenwert“, sagt die stellvertretende Leiterin der Beratungsstelle, die ihre Adresse in der Weststadt hat. „Man kann relativ lange mit dem Virus leben, ohne es zu wissen“, sagt Schurig, und dass Aufklärungsarbeit vor allem bei Jüngeren wichtig bleibt, auch wenn die Krankheit inzwischen sehr gut mit Medikamenten – die indes lebenslang genommen werden müssen – in Schach gehalten wird.
Die Heidelberger AIDS-Hilfe ist vor 34 Jahren gegründet worden und inzwischen eine professionelle Beratungsstelle mit vier Sozialarbeiterinnen und einer Verwaltungsangestellten, zudem gibt es drei geringfügig Beschäftigte. „Wir sind als geschützter Raum entstanden in einer Zeit, in der man nur schwer einen Arzt finden konnte, der einen betreute.“ Mit der Diagnose sieht die Prognose heute sehr viel besser aus Etwa die Hälfte der Klienten sind älter als 50 Jahre, ein Drittel sogar älter als 60 Jahre. Viele von ihnen seien schon sehr krank gewesen oder litten unter Folgen der ersten belastenden Medikamente, etwa unter Nieren- oder Leberschäden. Das seien auch jene Risikopatienten, die in der aktuellen Pandemie besonders auf sich achtgeben müssten. Aber: „Nicht jeder, der positiv ist, ist ein Risikopatient.“
Während Gesprächsangebote telefonisch oder mit Hygienevorgaben weiterlaufen, gibt es seit März wegen der Pandemie keine Selbsthilfegruppen-Angebote mehr. Eigentlich bilden sie einen wesentlichen Bereich der Arbeit: „Wenn jemand vor den neu Infizierten steht, der seit 30 Jahren mit dem Virus lebt oder eine Familie und ein ganz normales Leben hat, hilft das viel mehr als noch so kompetente Beratung.“ Diese Treffs seien durch Video nicht zu ersetzen. „Viele sind komplett durchs Raster gefallen“, bedauert Schurig, „ein psychischer Stabilisator fiel weg“.
© Mannheimer Morgen, Montag, 21.12.2020
Juliane Schurig
Arbeitsbereiche: Geschäftsstellenleitung • Beratung und Begleitung • PositHIV Wohnen • Öffentlichkeitsarbeit • Fachkräfteschulungen • Workshops für alle (Schwerpunkt: Lesben, Frauen)
Pronomen: sie/ihr
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