RNZ-Artikel: "Es war, als stünden sie vom Totenbett auf"

21-08-14 Interview Heidi
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"Es war, als stünden sie vom Totenbett auf"

In 28 Jahren bei der Aids-Hilfe erlebte Heidi Emling mit, wie die Krankheit kontrollierbar wurde. Nun geht sie in den Ruhestand.

Von Julia Lauer

Heidelberg. Als die Corona-Pandemie über das Land hereinbrach, dachte Heidi Emling: "Wieder ein lebensbedrohliches Virus, das die Menschen isoliert." In all den Jahren, in denen sie in der Heidelberger Aids-Hilfe tätig war, hat sie es oft erlebt, dass eine Krankheit Ängste schürt und somit letztlich auch ins soziale Abseits führt. In den Räumlichkeiten ihres Vereins, aber auch wenn sie Patienten in der Klinik oder zu Hause besucht hat, hat sie unzählige dieser Geschichten gehört.

Nun sitzt Heidi Emling in der Kaffeeküche der Aids-Hilfe in einem Hinterhaus in der Rohrbacher Straße. An den Wänden hängen Gemälde in warmen Farben, wer nach draußen schaut, blickt ins Grüne. Es ist ihre letzte Arbeitswoche; nach 28 Jahren verabschiedet sie sich in den Ruhestand. 28 Jahre der Auseinandersetzung mit einer Krankheit: Das ist eine lange Zeit. Doch davon erdrückt, wirkt Emling nicht – im Gegenteil. Denn sie kann auch von der Rückkehr ins Leben, vom Sieg des Mutes über die Verzweiflung erzählen. Und von den medizinischen Erfolgen, die all das überhaupt erst möglich machten.

Emling fing 1993 als Sozialarbeiterin bei der Aids-Hilfe an. Es war die Zeit der Brandanschläge wie auch der Balkankriege. Heidelberg stellte Asylunterkünfte, Tausende Stadtbewohner gingen gegen Ausländerfeindlichkeit auf die Straße, und eine Wagenburg im Neuenheimer Feld erhitzte im Gemeinderat die Gemüter. Aids kannte man seit rund zehn Jahren, die ganz große Aufregung hatte sich gelegt. Doch noch immer steckten sich viele Menschen an – auch in Heidelberg.

"Was wir damals gemacht haben, lässt sich am besten als Sterbebegleitung beschreiben. Wer mit HIV infiziert war, hat sich auf seinen Tod vorbereitet", erinnert sich Emling an ihre Anfangszeit. Viele schwule Männer suchten sie damals in ihrem Verein auf, damals noch in der Unteren Neckarstraße. Aber auch heterosexuelle Frauen waren darunter, und sie stammten längst nicht alle aus der Drogenszene. "Die Zeiten waren anders als heute, man war kein Kind von Traurigkeit", blickt Emling auf diese Ära zurück. "Die Aids-Kranken starben jedoch wie die Fliegen. Wir waren fast jeden Monat auf dem Friedhof", erinnert sie sich.

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1993, als sie dort anfing, betreute ihr Verein 27 Patienten. Im Jahr darauf waren es bereits doppelt so viele. Die Lage war ernst. Emling und ihre Kollegen berieten die Kranken und deren Umfeld, sie standen bei Fragen der medizinischen Versorgung zur Seite, boten Hilfestellung, wenn es um die Kranken- oder um die Rentenversicherung oder auch etwa um die Beantragung eines Schwerbehindertenausweises ging. "Die Aids-Hilfe ist außerdem ein geschützter Ort, an dem die Menschen offen reden können – bis heute", sagt Emling.

Ständig gab es neue Projekte, neue Selbsthilfegruppen und neue Kooperationen: So erklärt die Sozialarbeiterin selbst, wie sie so lange durchhielt. "Es blieb einfach spannend." Die Aids-Hilfe begann etwa damit, in Schulen und Asylunterkünften über die Krankheit aufzuklären, sie organisierte Auftritte des schwulen Männerchors Rosa Kehlchen im Karlstorbahnhof oder die Benefiz-Veranstaltung Sternen-Gala im Theater. Sie rief das betreute Wohnen ins Leben und baute es aus, sie tat sich mit dem Gesundheitsamt zusammen, um auch in den Räumlichkeiten der Aids-Hilfe regelmäßig Testungen anzubieten.

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Vielleicht blieb Emling aber auch deshalb so lange bei der Aids-Hilfe, weil es immer mehr Hoffnung für die Kranken gab: Medikamente vermochten, das Virus in Schach zu halten. Ein Lichtblick am Horizont. Denn schon zwei, drei Jahre, nachdem Emling bei der Aids-Hilfe angeheuert hatte, waren die ersten wirksamen Medikamente erhältlich. "Für die Behandlung mussten die Patienten Berge von Tabletten schlucken und nachts den Wecker stellen, um sie pünktlich zu nehmen", erzählt Emling. "Manche der Aids-Kranken hatten schon ihr Testament gemacht. Die Arzneien aber konnten ihr Immunsystem stärken. Es war, als stünden sie vom Totenbett auf."

Seither ist die Behandlung immer besser geworden. "Die Viruslast lässt sich so weit senken, dass das Virus nicht mehr nachweisbar und auch nicht mehr übertragbar ist", fasst Emling den Stand der Dinge zusammen. Es komme zwar noch immer vor, dass die Krankheit tödlich verlaufe – aber das eben nur vereinzelt, etwa weil die Infektion zu spät diagnostiziert wird. Meist können die Medikamente zuverlässig helfen. "Heute nimmt man ein oder zwei Tabletten am Tag. Das sind keine Smarties, aber inzwischen sind die Nebenwirkungen moderat."

Die neuen Präparate hatten zur Folge, dass Emling in der Aids-Hilfe auch viele Erfolgsgeschichten erlebt hat. Sie handeln etwa davon, dass infizierte Frauen ein gesundes Kind entbinden konnten. Oder auch von einer gelungenen Rückkehr in den Beruf.

Aber große Behandlungsfolge hin oder her: Die Aids-Hilfe braucht es trotzdem noch, ist Emling überzeugt. Und zwar nicht nur deshalb, weil die Zahl der Neuansteckungen in Deutschland seit Jahren relativ konstant ist, sodass Aufklärung nötig bleibt. "Im Sozialen ist Aids noch immer eine sehr spezielle Krankheit", weiß sie aus Erfahrung. Wer erkrankt ist, schämt sich häufig. "Manche Patienten sagen uns: Ich stand hier schon fünfmal vor der Tür, aber erst heute habe ich auch geklingelt." Manche Klienten hat sie auch schon auf der Neckarwiese getroffen: aus Gründen der Diskretion. Von ungefähr kommt das nicht. Denn nicht nur am Arbeitsplatz, ausgerechnet im Gesundheitswesen finde häufig Diskriminierung statt, erzählt sie. Zum Beispiel, wenn im Krankenhaus in riesigen Lettern "HIV" auf der Patientenakte steht.

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Emling plädiert deshalb für regelmäßiges Testen. "Nur wenn ich weiß, dass ich infiziert bin, kann ich mich frühzeitig um meine Behandlung kümmern und auch andere schützen." Während ihrer Zeit bei der Aids-Hilfe war ihr die Testung ein wichtiges Thema. Ob die Krankheit und ihre Bekämpfung sie nun auch im Ruhestand noch beschäftigen werden, weiß sie noch nicht. "Erst einmal freue ich mich darauf, keinen strukturierten Tag mehr zu haben, darauf, wandern und radfahren zu gehen", sagt Emling, die in der Südstadt lebt. Alles Weitere wird sich dann schon zeigen.